Qualitätssicherungs-Richtlinie Früh- und Reifgeborene (QFR-RL) setzt Fehlanreize.

Das Thema der Frühchen-Versorgung wurde durch die bekannt gewordenen Pläne zur erneuten Verschärfung der G-BA-Richtlinie, die zum 1.1.24 in Kraft treten soll, jüngst wieder medial aufgegriffen. Der sogenannte Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Krankenkasse, Kliniken und Ärzteschaft) hat die Mindestanzahl der Versorgung von Frühchen mit einem Geburtsgewicht von 1250 Gramm auf mindestens 25 (aktuell 20, davor 14) angehoben. Das bedeutet, dass Perinatalzentren, bei denen weniger Frühchen zur Welt kommen, die Zulassung zu ihrer Versorgung entzogen wird – einige davon in Baden-Württemberg.

Welche Folgen hat es für die Notfallversorgung und was macht es mit den Betroffenen, den Frauen, den Kindern und den Familien?

Jutta Eichenauer, 1. Vorsitzende des Hebammenverbands Baden-Württemberg bezieht Stellung dazu.

„Eine Mindestanzahl an vorzuweisenden Behandlungen festzulegen, um Qualität zu gewährleisten macht für Knieprothese- oder Glaukom-Operationen schon Sinn. Im Prinzip ist es Marketing, das sich seit Einführung der Fallpauschalen leider auch im Gesundheitssektor fest etabliert hat: Die Klinken sagen, wir machen das öfter als andere, also können wir das auch besser. So gewinnen sie mehr Patientinnen und Patienten, verdienen besser und sorgen so für den eigenen Erhalt. Welche Blüten das treiben kann und auch treibt, wurde in den letzten Jahren schon vielfach angeprangert.

Im Fall von Geburten bewegen wir uns da aber auf gefährlichem Terrain, denn hier gilt umgekehrt: Unser Bestreben muss sein, die drohende Frühgeburt so weit wie möglich heraus zu zögern, je näher in Terminnähe, desto besser für die Gesundheit von Kind UND Mutter. Gerade die Kliniken, die hier die Nase vorn haben und dafür sorgen, dass die Frühchen möglichst lange im Uterus verbleiben, sollen für ihre gute Arbeit bestraft werden? Absurd.

Emotionaler Stress
Vor allem muss doch die Frage erlaubt sein, was diese Anforderung mit den Betroffenen macht, den Schwangeren und ihren Familien. Wenn sie schon im Vorfeld wissen, dass sie notfalls sehr weit fahren müssen, setzt das die Frauen unter Druck – was physiologisch die Frühgeburt noch befördert. Und genau das sollen und wollen wir aus medizinischer Sicht verhindern. Hinzu kommt der emotionale Stress, oft lange von der Familie und den anderen Kindern getrennt zu sein, weil die Entfernung zu groß ist. Das erhöht doch den Druck, der mehr noch lebensbedrohlich für den Fötus sein kann.

Widersinnige Fehlanreize
Aktuell haben wir noch 21 sogenannte Perinatal-Zentren der Stufe 1, die ganz frühe Frühchen mit einem Geburtsgewicht von 1250 Gramm versorgen dürfen. Allein diese Bestimmung von außen, das „Dürfen“, finde ich fragwürdig, da bin ich mit vielen Fachleuten einer Meinung. Ich möchte mir hier erlauben, ein mehr als unrühmliches aber mögliches Szenario drastisch aufzuzeigen:
Einige dieser Zentren, in denen bisher die Frühchen versorgt werden durften, weil sie die bis jetzt ausreichende Anzahl von 20 aufweisen konnten, werden nach der Verschärfung ihren Status verlieren. Der drohende Verlust könnte dazu führen, dass sich die Versorgung von Frauen dahingehend ändert, die zu erwartende Frühgeburt nicht möglichst hinaus-, sondern vorzuziehen, um den Standard der Mindestanzahl behalten zu können. Müssen also Kliniken, die dafür bekannt sind, besonders gute Arbeit auf ihren Frühchen-Stationen zu leisten, nun schlechter arbeiten, um ihren Status erhalten zu können? Absurd.

Hinzu kommt, dass es für die besonders frühen Frühchen gemäß Fallpauschale mehr Geld gibt, was dazu beiträgt, der Klink ihren Erhalt zu sichern. Die neuen Anforderungen können also wirtschaftliche Beweggründe geradezu erzwingen – gerade in Zeiten von vermehrten Klinik-Insolvenzen.

Zentralisierung zieht Überlastung nach sich
Die Kliniken, die den Status behalten durften, werden automatisch überlastet. Zum einen müssen sie gemäß Dekret mindestens 25 Frühchen versorgen, zum anderen kommen noch die Frühchen dazu, die in den anderen Kliniken nicht mehr versorgt werden dürfen. Deren räumliche, technische und personelle Ausstattung ist schließlich auf die bisher gültigen Zahlen ausgelegt. Mit der neuen Regelung kommen sie zwingend an ihre Kapazitätsgrenzen. Und jenseits von statistischen Berechnungen sollte man sich nur einmal reale Umstände Augen führen: Welche hochqualifizierte Pflegekraft aus der Klinik, die geschlossen werden muss, akzeptiert bei diesem kräftezehrenden Beruf einen Umzug oder eine weite Fahrt zum Arbeitsplatz an der Klinik, die nun nach der Zentralisierung genau diese Fachkraft braucht?

Was passiert mit den Betroffenen, die weggeschickt werden müssen? Schließlich würde das analog zu den regulären Geburten ablaufen, die wegen der Schließungen von Kreißsälen und Überfüllung der noch vorhandenen Kreißsäle weite Fahrten auf sich nehmen. Schon da kennen wir genügend Schreckensszenarien – und wenngleich die nicht die Mehrzahl sind: Wer darf entscheiden, dass ein paar schlechte bis katastrophale Erfahrungen akzeptabel sind? Hier mit der Gewährleistung oder gar Verbesserung der Qualität zu argumentieren, halte ich vor dem Hintergrund all unserer Erfahrungen für widersinnig und mit Respekt vor den Betroffenen für anmaßend und empathielos.

Natürlich ist der B-GA ein Fachgremium. Aber er bezieht sich auf Daten anderer Länder mit geringerer Bevölkerungsdichte, besserer Infrastruktur und anderem Gesundheitssystem. In Deutschland fehlen für solche Anforderungen schlicht und einfach die Voraussetzungen. Frühgeburten sind oft lebensbedrohliche Notfälle. Wenn sie vor Ort nicht versorgt bzw. aufgenommen werden dürfen, wie schnell kommen sie dann zum nächstmöglichen Zentrum? Von Helikoptern ganz zu schweigen: Kann unsere Sanka-Flotte dem erhöhten Bedarf gerecht werden?
Die neue Richtlinie lässt zu viele Fragen offen und darf niemals umgesetzt werden – darin sind sich zahlreiche Fachleute einig.

Rechtliche Schritte werden geprüft
Daher hatte Manfred Lucha, Gesundheitsminister von Baden-Württemberg, gemeinsam mit Kollegen aus anderen Bundesländern gegen die neue Richtlinie Einspruch erhoben. Der wurde von der G-BA abgelehnt. Jetzt prüft das Ministerium mögliche juristische Maßnahmen. Bleibt zu hoffen, dass solche gefunden werden können.“

Jutta Eichenauer
1. Vorsitzende des Hebammenverbands Baden-Württemberg e. V.