Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte
Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), zu der sich 48 Staaten bekannt hatten.
Der erste der 30 Artikel besagt: “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren”, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder Religion.
Doch wie gehen wir mit unserer Geburtskultur um? „Es geht nur um das Geboren-Sein, nicht um das Geboren-Werden, wie geboren wird, um die Geburt selber“, so Kirsten Mahlke. Die Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden nennt diese Haltung unserer Gesellschaft „Geburtsvergessenheit“.
„Geburt ist der Beginn des Lebens, das Werden wird zum Sein, man sollte meinen, mehr geht nicht“, meint die Wissenschaftlerin. Aber der Umgang mit dem Werden selbst zeigt, woran unsere Gesellschaft krankt. Es geht also um mehr, viel mehr.
„Die Freiheit in einem Land kann gemessen werden an der Freiheit der Geburt“.
Ágnes Gerèb (Einleitung zum Dokumentarfilm „Freedom of Birth“; Budapest, Mai 2012)
Transformationsphase Geburt
Ein zentrales Forschungsthema von Kirsten Mahlke ist Kommunikation – ein Thema, das aus dem empirisch, historisch und vergleichenden Prozess der Wissenschaft heraus in den Alltag übertragbar ist und dort Anwendung findet. Ein Sonderfall ist dabei die Krisen-Kommunikation. „Krise ist die Phase, in der eine Entscheidung fällt, etwas anders wird: die Transformationsphase“, erklärt Mahlke.
Als zentrale Transformation im Leben von uns Menschen nehmen wir den Weg aus dem Leben wahr, den Tod. Doch die wichtigste ist der Weg ins Leben hinein, also die Geburt. Mahlke möchte uns bewusst machen, was Geburt ist. „Hier geht es nicht einfach um „aus-eins-mach-zwei“ als Produkt des Geschehens. Geburt ist kein quantitativer Wandel. Sie ist der qualitative Wandel, der mit dem Neugeborenen auch völlig neue Identitäten stiftet: der Wandel der Frau zur Mutter und des Mannes zum Vater, die sich bei jeder Geburt von neuem finden. Hier passiert etwas Gewaltiges im Bewusstsein der Eltern, vor allem der Frau – somatisch, spirituell, sozial: sich mit dem Unbekannten in Beziehung setzen, in Erwartung dessen, was da neu entsteht, das Beziehungswesen.“
Geburt ist existentiell und identitätserschütternd. Diesen Prozess begleitet die Hebamme, Transformation prägt ihre Arbeit. In dieser existentiellen Phase des Werdens stehen Worte nicht immer zur Verfügung. „Im Vordergrund steht die nichtverbale Kommunikation. Wie vermittelt man das Aushalten von Unbestimmtheiten und Ungewissheiten, das Nicht-Intervenieren, die Anpassung an eine nicht kalkulierbare Zeitlichkeit?“ fragt Mahlke. Das geht weit über die Kommunikation hinaus, die eher wegführt vom Zwischenmenschlichen. Diese Art der begleitenden Interaktion macht Hebammenkunst aus.
Hebammenkunst – was sie war, ist und sein könnte
Doch welche Stellung hat die Hebamme im Bewusstsein unserer Gesellschaft? Auch das sagt viel über die Gesellschaft aus.
Früher war ihre Arbeit eine eigenständige Kunst. Im 18. Jahrhundert änderte sich das. „Damals fand die Enteignung des Hebammenwissens statt, indem es in die Medizinische Fakultät überführt wurde, eine von Männern dominierte Institution, in der Frauen als Expertinnen und als Gebärende systematisch ausgegrenzt wurden (und bis heute werden). Ab jetzt sollen Männer Geburtshilfe, die bis dahin durchweg weibliche Kunst, betreiben; unter den Blicken der Männer und unter Zuhilfenahme von Geräten, statt von Händen und Gefühl. Das war die Weichenstellung hin zur Mechanisierung, Technologisierung und schlussendlich Ökonomisierung: dem Bekenntnis zur Profitorientierung in der Wirtschaftspolitik folgt die Privatisierung des Gesundheitssystems, an das die Geburtshilfe angehängt ist. Geburtshilfe wird den Zwängen von Risikoberechnungen, Rationalisierung und Zentralisierung untergeordnet, ein nicht quantifizierbares Phänomen in einem quantifizierten System“ so Mahlke.
Gewalt unter der Geburt
Und wo dieser Druck herrscht, kommt schnell und unversehens Gewalt ins Spiel. Und das Spektrum des subjektiven Gewaltempfindens ist riesig.
Laut Informationen des bff Frauen gegen Gewalt e. V. bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation WHO die Gewalt gegen Frauen als eines der größten Gesundheitsrisiken von Frauen weltweit. Dazu gehört auch die Gewalt unter der Geburt (wir berichteten).
„Zunächst geht es um eine systemische Gewalt. Das System zwingt uns, weiterzugeben, was es durch Routinen und monetäre Zwänge vorgibt. Und das hat eine juristische Dimension,“ betont die Wissenschaftlerin. Es gibt auch heute Hebammen, die sich den Vorgaben nicht beugen und mit ihrem Hebammenwissen Geburten begleiten, ohne Druck, ohne Gewalt, ohne Interventionszwang. Damit gehen sie ein Risiko ein, das von Versicherungsanstalten definiert wird. „Wir erlauben einer unbeteiligten Gruppe von Menschen, so ein intimes Ereignis wie die Geburt und deren Ablauf zu bestimmen. Bereits hier müssten wir die Menschenrechtsdefinition hinterfragen. Davon sind alle Gebärenden betroffen. Das ist ein massiver Eingriff in die Privatsphäre, eine massive Behinderung in der freien Entfaltung“, warnt Mahlke. Mehr noch, es ist faktisch die Entmündigung der Frau – die eine lange Tradition in den westlichen Gesellschaften hat. In antiken und biblischen Mythen werden gebärende Frauen auf irritierende Weise ausgegrenzt, Wir sind unmerklich Teil davon und nehmen es hin.
Auch das Diktat der Ökonomisierung und Leistungssteigerung ist in unsere Haltung eingebrannt. „Wir haben uns fast schon daran gewöhnt“, stellt Mahlke fest. „Doch langsam zeigt sich ein wachsendes Bewusstsein für unsere Leistungs- und Profitorientierung und dass wir uns dringend überlegen müssen, an welchen Werten wir unser gesellschaftliches Leben orientieren wollen“, so die Kulturwissenschaftlerin. „Was steht auf dem Spiel? Wie wichtig ist es, der Geburt gute Rahmenbedingungen zu geben, wie viel kann kaputt gehen, wenn das nicht mehr gewährleistet ist?“
Paradigmenwechsel mit Hebammenwissen
Mahlke möchte darauf hinwirken, das Wissen der Hebammen tiefgreifender anzuerkennen, ihr Können, ihre Kunst. Hebammen haben eine ganz besondere Rolle. Sie sind vertraut mit dem Nicht-Quantifizierbaren, mit dem Abwarten, dem Nicht-Eingreifen, dem Werden-Lassen. „Aus ihrer Position heraus könnten sie ein anderes Paradigma einführen, jenseits des Ökonomischen Zwangs“, davon ist Mahlke überzeugt. Sie empfiehlt, dass man sich im Gesundheitssektor zukünftig nicht mehr von den Paradigmen der Wirtschaft und Versicherungslogik leiten lässt, sowie an der damit einhergehenden Technologisierung, sondern sich im Sinne des Patientenwohls auch am Wissen der Hebammen orientiert. Ihre Aufgabe und Kompetenz ist die Begleitung in Transformationsphasen, in Krisensituationen. Sie können sich nicht einfach auf standardisierte Vorgaben stützen. Sie müssen mehr können, mit dem einzelnen Menschen umgehen.
„Wenn wir uns stärker an der Hebammenkunst orientieren würden, dann ließe sich vieles menschlicher machen“, davon ist Kirsten Mahlke überzeugt.
Kirsten Mahlke ist eine der Organisatorinnen des Seminars mit begleitender Film- und Vortragsreihe „Hebammenkunst im Wandel. Interdisziplinäre Perspektiven auf Geburt und Geburtshilfe”, das von 23. April bis 20.Juli 2019 an der Universität Konstanz stattfand (wir berichteten).
Sponsoren willkommen
Wer Möglichkeiten oder Ideen hat, die weitere Forschungsarbeit zu unterstützen, kann gerne mit ihr Kontakt aufnehmen:
Prof. Dr. Kirsten Mahlke
Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden Fach 151 Universität Konstanz
Universitätsstr. 10
78467 Konstanz
Tel.: 0049-7531-882426
kirsten.mahlke@uni.kn

Als Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission war Eleanor Roosevelt maßgeblich an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt. Hier ist sie mit einem Poster der Deklaration in spanischer Sprache zu sehen. (© UN Photo)